Es ist eigentlich unrichtig, wenn man von dem Textus Receptus spricht, denn es gibt Hunderte von verschiedenen Ausgaben dieser Textform mit Tausenden von Unterschieden.
Die Unterschiede zwischen einzelnen Textus-Receptus-Ausgaben werden von Verteidigern des Textus Receptus gerne verharmlost oder als unbedeutend hingestellt, weil sie nicht ins Konzept ihres vermeintlich „von Gott bewahrten“ Textus Receptus passt; es würde ja bedeuten, dass Gott innerhalb dieser Textform Tausende von Unterschieden erlaubt hätte, und von „Bewahrung“ könnte dann nicht mehr die Rede sein.
Wollte man alle Textus Receptus Ausgaben vergleichen, würde der Rahmen dieser Internetseite gesprengt. Daher beschränken wir uns auf fünf bedeutsame und weitverbreitete Ausgaben des Textus Receptus:
1) Erasmus (Ausgabe von 1527)
2) Complutensia (Complutensische Polyglotte, erschienen 1522)
3) Stephanus (Ausgabe von 1550; bei Abweichungen werden auch die Ausgaben von 1546 und 1549 genannt)
4) Beza (Ausgabe von 1598)
5) Elzevir (Ausgabe von 1624)
Einige (!) Unterschiede dieser Ausgaben folgen in folgender Tabelle. Links steht die Bibelstelle und die beiden rechten Spalten geben zwei verschiedene Fassungen in deutscher Übersetzung wieder. Zur besseren Übersicht sind die Unterschiede bisweilen fett gedruckt.
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Diese Liste ist noch längst nicht vollständig. Weitere Unterschiedliche Lesarten der unterschiedlichen Textus receptus Ausgaben findet man z. B. in Mat 9,18; 13,24 Mark 4,18; 5,38; 6,53; 10,25; Luk 6,37; 8,29; 10,6; 17,35; 20,31 Joh 8,42; 13,31; 16,25; 18,24 Apg 1,4; 3,3; 5,12; 6,3; 8,28; 18,6; 21,4; 24,13; 24,18; 26,18; 26,20; 27,3 Röm 8,11; 16,27 2. Kor 3,1; 5,4; 6,15; 7,16; 10,10; 13,4; Eph 1,3; Phil 4,12; Kol 1,24; 4,10; Heb 4,15; 9,1; 9,2; 10,2.10; 12,22.24 Jak 4,13.15; 1. Pet 2,21; 2. Pet 1,1.21; 2,9; 3,7; 3. Joh 1,7; Jud 12.19; Offb 7,2.14; 8,6.11; 10,7; 11,14; 13,3; 14,18; 16,14; 17,4; 19,14.18; 20,4; 21,13. Auch diese Liste ist noch nicht vollständig.
Man könnte einwenden, die Liste oben sei nur so umfangreich, weil man mehrere Ausgaben des Textus receptus verglichen habe. Aber auch zwischen nur zwei Ausgaben gibt es viele Unterschiede. Beispielsweise unterscheiden sich die beiden berühmten Ausgaben von Stephanus (1550) und Elzevir (1624) an folgenden Stellen (Kleinere Unterschiede, z. B. in der Setzung der Akzente oder Grammatikvarianten der griechischen Sprache, die keinen Bedeutungsunterschied haben, sind oft ausgelassen worden, sonst wäre die Liste noch länger geworden):
Matthäus 6,34; 8,4; 10,4; 18,30; 19,1; 20,15.22; 21,7; 23,13.14; 24,9.15.34; 25,2; Markus 1,21; 2,7; 6,9.29; 8,3.27; 9,38.40; 10,25; 11,14; Lukas 2,22; 3,23.33; 7,12(2x); 8,29; 10,6.13.19.22; 11,12.33 (2x); 12,18;; 13,8.19; 15,16; 17,1.26.35.36; 18,3; 19,4; 20,31.47; 22,45; 23,11; 24,4.27; Johannes 1,28; 2,1.11; 3,6(2x);4,5.23; 5,7; 6,28; 7,27.38; 8,25.59; 9,10;12,17.32; 13,30.31;14,11; 16,33; 18,1.20.24; 19,7.31; 21,2; Apostelgeschichte 2,36; 4,32; 5,12; 6,3; 7,26.44; 8,19; 9,3.24.35; 14,8; 15,32; 16,4.11.17; 17,25; 19,27.33; 21,3.8; 23,15.16; 24,13.14.18.19; 26,8.20; 27,13; 28,13; Römer 1,27; 2,17; 6,10; 7,2.6; 8,11.21; 9,19; 10,6; 11,2.22.31.33; 12,5.11; 13,5, 16,5.20; 1. Korinther 1,29; 3,15; 5,7.11; 6,14; 7,4.5.29(3x); 9,1.27; 11,22; 12,23; 13,2.3; 14,15.27; 15,2.31; 16,10; 2. Korinther 3,3; 4,4; 5,4.19; 6,15; 7,12.16; 8,8.20; 11,1.10, 13,4; Galater 3,8; 4,17; 5,2; Epheser 1,3; 4,25; Philipper 1,23; 4,2; Kolosser 1,2; 2,13; 1. Thessalonicher 2,15.17; 1. Timotheus 1,4; 2,13; 3,2.11; 2. Timotheus 1,5; 4,13; Titus 2,7.10; Philemon 7; Hebräer 1,12; 4,15; 7,1; 8,9; 9,2.12; 10,2.10; 12,9.22.23; Jakobus 4,13(2x).15; 5,12; 1. Petrus 1,3; 2,21; 3,11.21; 4,8.13; 2. Petrus 1,1.7; 2,12.18; 3,7; 1. Johannes 1,4; 2,29; 4,14; 5,14; 2. Johannes 3.5; 3, Johannes 7; Judas 9.19.24; Offenbarung 1,20; 2,5.14; 3,1.12; 4,3.10; 5,11; 7,3.7.10.17; 8,5.11; 9,1.2; 13,3.5; 14,8.18; 16,14; 18,16; 19,1.4.6.14; 20,4(2x); 21,16.20; 22,8.
Die ausführliche Tabelle oben listet 64 verschiedene Lesarten, innerhalb bedeutender Textus-Receptus-Ausgaben auf - und dies sind, wie gesagt, noch längst nicht alle Unterschiede. Nach den Regeln der Kombinatorik gibt es dann 2 64 (lies: „zwei hoch vierundsechzig“) verschiedene Möglichkeiten, einen Textus Receptus zu drucken, der nur auf Lesarten dieser Ausgaben beruht. 2 64 ist die astronomisch große Zahl von etwa 18.446.744.000.000.000.000.
Selbst wenn man sagt, dass in den oben genannten Fällen die Lesart nur an 30 Stellen von Bedeutung ist, kommt man auf 2 30 Möglichkeiten. Das sind 1.073.741.824, also mehr als eine Milliarde Möglichkeiten.
Manchmal wendet man ein, die Unterschiede zwischen den Textausgaben des Textus Receptus seien insgesamt gesehen deutlich geringer als die zwischen den Ausgaben moderner Textkritiker. Obwohl das an sich stimmt, übersieht man, dass die Folgen in beiden Fällen sehr ähnlich sind: In beiden Fällen ergibt sich eine astronomisch hohe Zahl an möglichen Textfassungen. Dabei spielt es dann keine große Rolle mehr, ob es fünfzigtausend oder fünfzig Billionen mögliche Fassungen sind, denn die Zahlen sind in beiden Fällen zu groß, als dass man die Unterschiede vernachlässigen könnte. Man kommt nicht darum herum eine Auswahl zu treffen und begründete Kriterien für diese Auswahl zu nennen.
Solange moderne Verfechter des Textus Receptus nicht bereit oder in der Lage sind, Kriterien für die Wahl ihres Textus Receptus zu nennen und dies Wahl nicht nachprüfbar legitimieren können, muss ihre Textauswahl als willkürlich und eigenmächtig bezeichnet werden. Es ist gelinde gesagt unverständlich, wie eben diese Textus-Receptus-Verfechter auf der anderen Seite den modernen Textkritikern Willkür in der Textauswahl vorwerfen, da sie selbst diese Willkür in offensichtlicher Weise an den Tag legen.
Die „Schlachter-Übersetzung, Version 2000“ (herausgegeben von der Genfer Bibelgesellschaft, ISBN 3-7751-3443-3, in Deutschland vom Hänssler-Verlag vertrieben) versteht sich als eine neue revidierte Fassung der bekannten Bibelübersetzung von F. E. Schlachter. Dabei hat man sich auf Textausgaben des Textus Receptus gestützt, dem Text, der „von den Reformatoren im 16. Jahrhundert benutzt wurde“, wie es im Vorwort heißt.
Untersucht man die Übersetzung, so stellt man schnell fest, dass die Übersetzer offensichtlich keinem der gedruckten Textfassungen genau gefolgt sind, sondern aus den vorhandenen Ausgaben des Textus Receptus eine Auswahl getroffen haben. (Dass dies tatsächlich geschehen ist, wurde dem Verfasser in einem Telephongespräch mit einem der Übersetzer bestätigt.) Schlachter 2000 folgt z. B. in Mark 8,14; Luk 1,35 usw. dem Text von Stephanus (1550), während sie in Mat 2,11; 21,7; Mar 9,40 usw. anders liest als Stehanus.
Die Kriterien, nach denen man die jeweilige Lesart der „Schlachter-2000“ ausgewählt hat, bleiben subjektiv und sind nicht nachvollziehbar. Man hat auch vermieden, den Leser auf diese eigenwillige Textauswahl im Vorwort oder in Fußnoten hinzuweisen; hätte man das getan wäre den Lesern die willkürliche Auswahl der Textgrundlage aufgefallen. Im Grunde haben die Übersetzer von "Schlachter 2000" genau das getan, was sie textkritischen Ausgaben (z. B. Nestle-Aland) vorwerfen: Sie haben aus vorhandenem Textmaterial eine eigene Textfassung zusammengestellt. Von einem göttlich unfehlbaren Bibeltext, von dem kein Jota oder Strichlein vergehen wird, kann hier keine Rede sein, denn von einem solchen Text kann es keine verschiedenen Fassungen geben.
Anders gesagt: Die griechische Textgrundlage von Schlachter 2000 existiert nicht; sie wurde noch nie in der Geschichte genau so gedruckt, wie sie hier übersetzt wurde und jede gedruckte Textus Receptus Ausgabe weicht von Schlachter 2000 an etlichen Stellen ab.
Es ist auch irreführend, wenn man im Vorwort sagt, die Textgrundlage der „Schlachter-2000“ sei „von den Reformatoren im 16. Jahrhundert benutzt worden“, denn ein Text, dessen Lesarten erst von den Übersetzern der „Schlachter 2000“ im 20. Jahrhundert festgelegt wurde, konnte den Reformatoren natürlich noch nicht vorliegen. Die „Schlachter-2000“-Übersetzung unterscheidet sich folglich auch von den reformatorischen Ausgaben, z. B. hatte Luther in Lukas 1,35 übersetzt: „Darumb auch das Heilige, das von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genennet werden“ (Rechtschreibung nach der letzten von Luther bearbeiteten Fassung aus dem Jahr 1545). Luther übersetzte hier nach Erasmus (und auch Beza las so). In der Schlachter-2000 fehlen jedoch die Worte „von dir“, wie auch in den Textausgaben von Stephanus und Elzevir. Ein anderes Beispiel steht in Luk 8,31. Hier übersetzt Luther (mit Erasmus): „Vnd sie baten jn [=ihn]“, die „Schlachter-2000“ hat jedoch „und er bat ihn“ (mit Stephanus, Beza und Elzevir).