Hat Judas am Abendmahl teilgenommen?


Das Problem

Alle vier Evangelien berichten ausführlich von der letzten Nacht vor der Kreuzigung. Lukas schreibt dazu in Kapitel 22:

Vers 19-20 "Und er [Jesus] nahm Brot, dankte, brach und gab es ihnen und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dies tut zu meinem Gedächtnis! Ebenso auch den Kelch nach dem Mahl und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.
Vers 21-22 Doch siehe, die Hand dessen, der mich überliefert, ist mit mir auf dem Tisch. Denn der Sohn des Menschen geht zwar dahin, wie es beschlossen ist; wehe aber jenem Menschen, durch den er überliefert wird!"

Die letzten beiden Verse beziehen sich auf den Verräter Judas Iskariot. Nur Lukas berichtet von diesen Worten des Herrn Jesus über Judas. Viele Ausleger haben falsche Schlüsse aus diesen Worten gezogen. Insbesondere wurde und wird immer wieder behauptet, Judas sei noch während des Abendmahles zugegen gewesen. Manche Ausleger sind sogar noch weiter gegangen und haben gesagt: Wenn sogar der Herr Jesus nicht verhinderte, daß Judas am Abendmahl teilnahm, wieviel weniger brauchen wir es heute zu verhindern, wenn unbekehrte Menschen am Abendmahl teilnehmen. Aber der Schluß ist irrig. Die Voraussetzung stimmt nicht. Judas hat nicht am Abendmahl teilgenommen.

Wie war es denn?

Nach der Darstellung der Evangelien fand das erste Abendmahl nach der Austeilung des Passahs statt.

Johannes berichtet zwar nicht vom Abendmahl selbst, aber er teilt nähere Details über die vorhergehende Passahfeier mit: "Als Jesus dies gesagt hatte, wurde er im Geist erschüttert und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird mich überliefern. (...) Der ist es, dem ich den Bissen, wenn ich ihn eingetaucht habe, geben werde. Als er nun den Bissen eingetaucht hatte, gibt er ihn Judas, Simons Sohn, dem Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr dann der Satan in ihn. Jesus spricht nun zu ihm: Was du tust, tu schnell! Keiner aber von den zu Tisch Liegenden verstand, wozu er ihm dies sagte. Denn einige meinten, weil Judas die Kasse hatte, daß Jesus zu ihm sage: Kaufe, was wir für das Fest nötig haben, oder daß er den Armen etwas geben solle. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er sogleich hinaus. Es war aber Nacht." (Joh 13,21-30)

Das Eintauchen des Bissens war Teil der Passahfeier. Judas hat also den Beginn des Passahs noch im Kreis der Jünger mitgemacht, aber vor der Einsetzung des Abendmahls den Raum verlassen. Johannes sagt ausdrücklich, daß dies "sogleich" geschehen sei.

Während der Austeilung des Kelches, sagte der Herr später: " Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird" (Luk 22,20). Diesen Satz hätte er im Beisein von Judas nicht sprechen können. Das Blut des Sohnes Gottes wurde nicht für Judas vergossen. Er fand keine Vergebung, weil er das Werk seines Herrn nicht angenommen hat.

Wie ist die Reihenfolge bei Lukas zu erklären?

Es bleibt nun noch eine Frage übrig: Lukas berichtet zuerst über das Abendmahl und danach über die Worte "die Hand dessen, der mich überliefert, ist mit mir auf dem Tisch". Wieso schreibt Lukas hier entgegen der zeitlichen Reihenfolge?

Die Antwort ist einfach: Lukas weicht öfter von der chronologischen Reihenfolge ab, weil die für ihn zweitrangig war. Der grobe Rahmen im Lukasevangelium ist zwar zeitlich orientiert (Lukas beginnt mit der Geburt und endet mit der Himmelfahrt), aber nicht jedes Detail. Statt dessen gliedert er seinen Stoff oft thematisch, d.h. er faßt bestimmte Themen zusammen, auch wenn er dabei die zeitliche Reihenfolge durchbricht.

Eine solche thematische Gliederung ist auch sonst in der Bibel üblich. Ja auch außerhalb der Bibel ist es die normale Art der Geschichtsdarstellung. Vor mir liegt eine Buch über die Weltgeschichte. Das Buch ist zwar grob chronologisch aufgebaut (es beginnt mit der Frühgeschichte und endet im 20. Jahrhundert), aber die Reihenfolge der einzelnen Kapitel ist nicht immer chronologisch.

Kapitel 8 handelt von den islamischen Reichen von 600 - 1200 n. Chr.,
Kapitel 9 von Europa während der Zeit von 900 - 1250 n. Chr. und
Kapitel 10 vom Mongolensturm (850 - 1300 n. Chr.).

Offensichtlich haben die Herausgeber die Darstellung nach Gebieten (naher Osten, Europa, Asien) gegliedert. Dem Leser hätte eine rein chronologische Anordnung hier nicht viel geholfen.

Ebenso gliedert Lukas seine Darstellung in Details oft mehr nach Zusammenhängen als nach zeitlicher Abfolge. Dafür möchte ich zwei Beispiele geben (die man um weitere Beispiele vermehren könnte):

1. Beispiel (aus Lukas 3):

Vers 18 "Indem er [Johannes der Täufer] nun auch mit vielen anderen Worten ermahnte, verkündigte er dem Volk gute Botschaft.
Vers 19-20 Weil aber Herodes, der Vierfürst, wegen Herodias, der Frau seines Bruders, und wegen alles Bösen, das Herodes getan hatte, von ihm zurechtgewiesen worden war, fügte allem auch dies hinzu, daß er Johannes ins Gefängnis einschloß.
Vers 21 Es geschah aber, als das ganze Volk getauft wurde, und Jesus getauft war und betete, daß der Himmel aufgetan wurde... usw. "

Lukas gliedert Kapitel 3 thematisch:

1) Zuerst berichtet er von Johannes und seinem Dienst (Kapitel 3,1-20)
2) Dann folgt der Herr Jesus und sein Dienst (Kapitel 3,21 ff.)

Zeitlich liegen die Verse 19 und 20 nach der Begebenheit von der Taufe von Jesus Christus (Vers 21 ff.). Johannes wurde natürlich erst nach der Taufe Jesu uns Gefängnis geworfen. Lukas möchte zuerst das Wirken und den Dienst des Täufers zu Ende erzählen um sich danach dem Dienst und Wirken des Herrn Jesus um so intensiver widmen zu können.

2. Beispiel (aus Lukas 8):

Vers 37 a
"Und die ganze Menge aus der Gegend der Gadarener bat ihn [Jesus], von ihnen wegzugehen, denn sie waren von großer Furcht ergriffen.
Vers 37 b Er aber stieg in das Schiff und kehrte zurück.
Vers 38 Der Mann aber, von dem die Dämonen ausgefahren waren, bat ihn, daß er bei ihm sein dürfe." usw.

Aus dem Zusammenhang ist deutlich, daß Vers 37 b zeitlich nach Vers 38 stattfand. (Der Besessene konnte ja nicht nach der Abfahrt gefragt haben.) Lukas verläßt wieder die chronologische Darstellung, weil er zwei verschiedenen Themen behandeln möchte:
a) Die Ablehnung durch die Gadarener.
b) der Eifer des geheilten besessenen.

Um das erste Thema zu vervollständigen gehörte die Information dazu, daß Jesus sich den Gadarenern nicht aufdrängt, sondern ihr Gebiet verläßt, nachdem sie ihn darum gebeten hatten. Danach erst folgt das zweite Thema.

Nach diesen beiden Beispielen verwundert es nicht, wenn Lukas in Kapitel 22 ebenso die streng chronologische Darstellung verlassen hat und statt dessen thematisch gliedert.

Im Zusammenhang wird auch sofort deutlich, warum Lukas hier anders gliedert. Er stellt zwei große Themenblöcke vor:

1) Zuerst stellt er die beiden Mahle vor:
a) Passah (Vers 14 - 18) und
b) Abendmahl (Vers19-20).
Beide werden eng verbunden.

2) Danach zeigt er, wie sehr der Herr Jesus sogar von den Jüngern unverstanden war:
a) Judas war zugegen (Vers 21-23),
b) die Jünger stritten, wer der Größte sei (Vers 24 ff.) und
c) Simon Petrus überschätzte sich völlig (V. 31 ff.).

Unter Punkt 2) faßt Lukas die Widerstände gegen die demütige Gesinnung des Herrn zusammen, um sie um so deutlicher herauszustellen. Daher verbindet er die Gegenwart des Judas mit den beiden anderen Punkten. Daß Judas zwar beim Passah, aber nicht mehr beim Abendmal zugegen war, spielte für seine Darstellung keine Rolle.

Schluss

Die kurze Betrachtung lehrt zwei wichtige Grundsätze:

1) Die auf den ersten Blick nächstliegende Auslegung ist nicht immer die richtige. Lukas 22,21 sagt nur, daß die Hand des Verräters mit ihm auf dem Tisch war. Es wird dort nicht gesagt, daß dies während des Passahs und des Abendmahls so gewesen sei

2) Die vier Evangelien müssen miteinander verglichen werden um falsche Schlüsse zu vermeiden.

Am Schluß möchte ich noch bemerken, daß auch Matthäus (ähnlich wie Lukas) oft einer thematischen Gliederung den Vorzug vor einer zeitlichen Gliederung gibt. Markus und Johannes hingegen schreiben meistens chronologisch. Aber auch sie weichen manchmal von der chronologischen Darstellung ab. Zum Beispiel setzt Markus die Salbung in Bethanien nach den Einzug in Jerusalem (Markus 11,1-11; 14,3-9), Johannes setzt die Salbung vor den Einzug (Johannes 12,1-18). Gemäß Joh 12,12 stellt Johannes die Begebenheit chronologisch dar, während Markus anders gliedert.

M. Arhelger