Wachstum im geistlichen Leben (14. Brief)

Lieber ...,

soviel hat Gott dir klar gemacht: Ein Christ darf nie denken, seine geerbte alte, sündhafte Natur sei bei der Bekehrung verändert worden. Wenn er auch im geistlichen Leben wächst und somit seinem Herrn und Heiland im Leben ähnlicher wird, wozu er ja von Gott berufen und befähigt ist, so ist doch deshalb seine alte Natur, die böse Wurzel in ihm, dieselbe geblieben. Sie ist nicht heilig geworden. Sie ist auch nicht aus ihm verschwunden, ja, nicht einmal kleiner geworden. Die Umgebung oder Welt, die den treuen Christen täglich beobachtet, wird vielleicht von dem Treuen so urteilen. Sie nimmt dessen Früchte und Fortschritte des geistlichen Lebens in ihm wahr, weiß aber nichts von dem Werk des Heiligen Geistes in der Seele und von den Übungen eines gläubigen, erneuerten Herzens.

Das Urteil der Welt gleicht dem eines Mannes, der seinen Freund besuchte und in dessen Garten einen schönen Zierstrauch sah. Aus der Mitte des blühenden Strauches ragte ein toter Baumstumpf hervor, der nicht gut entfernt werden konnte. Der Freund pflegte den Zierstrauch treu, dass er schön wuchs und bald den hässlichen Baumstumpf überragte und bedeckte. Nach längerer Zeit besuchte jener Mann seinen Freund wieder, sah auch den Zierstrauch wieder, der so schön gewachsen war, und sagte: "Wie gut, dass endlich der hässliche Baumstumpf weggenommen worden ist!" - "Oh!" entgegnete der Besitzer des Gartens, "der Holzstumpf ist nicht fort, ist auch nicht kleiner geworden, aber der blühende Strauch ist größer und stärker geworden und nun verunziert der Stumpf nicht mehr den Garten."

Des Christen Fortschritte sollen offenbar werden. Die Welt, die den Christen vielleicht früher als eitel und aufge blasen kannte, sollte in ihm nun einen bescheidenen und demütigen Menschen finden; und hat sie ihn als jähzornig oder unmäßig oder unwahr gekannt, so muss sie ihn nun als einen sanftmütigen, mäßigen und wahrhaft treuen Menschen kennen lernen. So nur ist es recht. Es steht geschrieben: "Jeder Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt." Und ferner: "Zeige mir deinen Glauben!" (Luk. 6,44; Jak. 2.) Indessen beschränken sich natürlich das Wachstum und die Fortschritte des geistlichen Lebens eines Christen nicht nur auf die äußere Moral. Sein Herz soll vor allem mehr zu Jesus hingezogen und von Ihm erfüllt werden und Ihn, die Wonne Gottes, völliger genießen und erheben. Der Herr Jesus wird bei einem treu wandelnden Christen mehr und mehr die Freude, der Ruhm, der einzige Gegenstand der Seele werden, wie wir dies bei dem Apostel Paulus sehen. (Phil. 3.) Wir finden das auch in den Briefen des Apostels Johannes an die "Väter" in Christus. Während er die "Kindlein" und die "Jünglinge" über manches belehren musste, was sie zu tun und zu lassen hatten, konnte er sich bei den Vätern kurz fassen und ihnen einfach sagen: Ihr habt Den erkannt, "der von Anfang ist," d. h. ihr habt alle eure Quellen nun in Jesus, dem Ewigen, dem Herrn der Herrlichkeit, und ihr ruht in Ihm, dem Allgenugsamen. (1. Joh. 2,13.14.)

Aber bleiben wir für einen Augenblick bei den zuvor berührten Früchten des neuen Lebens stehen, die auch die Welt beurteilen kann: "Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit." (Gal. 5,22-23.) Sie werden auch nur so lange den Christen zieren, wie er seiner Verantwortlichkeit entspricht. Zwei Dinge soll der Christ tun und kann er tun in seiner aus Gnaden erlangten, gesegneten Stellung eines Kindes Gottes. Er soll suchen, "was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes." (Kol. 3,1.) Er soll also das neue Leben aus Gottes Wort nähren und pflegen. (1. Petr. 2,2.)

Christus ist das wahrhaftige Brot, ist "wahrhaftige Speise", "wahrhaftiger Trank". Er sagt: "Wer Mich isst, wird auch leben Meinetwegen". (Joh. 6.) Wer sich in Gottes Wort erbaut und stärkt, und das Erkannte treu verwaltet, wird wachsen zur Errettung und nicht fruchtleer dastehen. (1. Petr. 2,2 und 2. Petr. 1,1 -8.)

Das Zweite ist: Der Christ soll seiner unveränderlichen und unverbesserlichen alten Natur, immer den ihm gebührenden, von Gott angewiesenen Platz anweisen. Gott hat den alten Mensch in Christus am Kreuz dem Gericht und Tod übergeben. Dahin gehört er nach dem Urteil Gottes, dahin gehört er nach dem Urteil des Gläubigen. Unser alter Mensch ist mitgekreuzigt. (Röm. 6,6.) "Die des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt." (Gal. 5,24). "Ihr seid gestorben." (Kol. 3,3.) Darum ruft Gottes Wort uns zu: "Haltet dafür, dass ihr der Sünde tot seid." (Röm. 6,11.) Und darum sollen wir die Regungen des alten Menschen richten, oder, wie Gottes Wort es nennt, die Glieder des alten Menschen töten: "Hurerei, Unreinheit, Leidenschaft, böse Lust und Habsucht, die Götzendienst ist." So sind auch abzulegen: "Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung, schändliches Reden" und Lüge und was sonst noch der gesunden Lehre und göttlichen Natur zuwider ist. (Kol. 3,5-10.)

Sind wir nun in einem dieser beiden Stücke oder gar in beiden nicht treu, verbleiben wir, die wir des Herrn sind, nicht im beständigen, verborgenen Umgang mit Ihm, ist Er nicht in Wahrheit die Speise für unsere Seelen, der Schatz unserer Herzen, und leben wir nicht im steten strengen Selbstgericht, so dass wir auch die geheimsten Regungen der alten Natur in der Furcht des Herrn unnachsichtig verurteilen und den alten Menschen in der Kraft des Heiligen Geistes niederhalten, so kann von einem Wachstum, einer Verherrlichung des Herrn durch uns, von einem Fruchttragen für Ihn, nicht die Rede sein.

Was das Selbstgericht betrifft, so mag es nötig sein zu sagen, dass der oben gebrauchte Vergleich von dem toten Baumstumpf an der Seite oder inmitten eines blühenden Zierstrauchs in diesem Punkte nicht zutrifft. Ein völlig toter Baumstumpf kann, wie ich oben sagte, überholt, überdeckt werden von der lebenden und größer werdenden Pflanze, aber er wird nicht mehr Augen und Keime ansetzen und Schösslinge treiben. Letzteres aber tut bei uns die alte Natur, die zwar vor Gott völlig richterlich das Todesurteil empfangen hat, aber unserer Erfahrung zufolge noch vorhanden ist. Wenn wir nicht wachen und beten, nicht mit dem Herrn wandeln, und nicht im Glauben und im Selbstgericht bleiben, werden die Regungen des alten Menschen, die ich die Augen und Keime am alten Stamm nennen will, ans Tageslicht kommen und bittere Früchte tragen. (Vergl. Heb. 12,15.)

Wie arm und kläglich ist ein Christenleben - wenn es überhaupt ein solches ist - in dem diese Dinge nicht gefunden werden! Ich kann hier nicht eingehen auf die Zucht, die in solchem Fall geboten ist und auf die ernsten Wege, die Gott in Seiner Heiligkeit mit manchen der Seinen gehen muss; aber wahr ist es leider, dass manche gerettet werden "wie durchs Feuer". (1. Kor. 3,15.) Welch ein großer Verlust! -

Möge dein Leben, lieber ..., nicht so sein! Möchte dein Pfad der eines Gerechten sein, der da scheint wie das glänzende Morgenlicht, das immer heller leuchtet bis zur vollen Tageshöhe! (Spr. 4,18.)

Wir können hiermit wohl unseren ernsten Gegenstand verlassen. Du hast die Möglichkeit und Notwendigkeit des Wachstums im geistlichen Leben erkannt, wie auch die Bedingungen dieses Wachstums.

Als das Ziel alles geistlichen Wachstums hatten wir schon früher die Gleichheit mit Christus erkannt, die allerdings erst völlig erreicht sein wird, wenn der Tod verschlungen ist in Sieg und wir Ihn, unseren Herrn, schauen werden von Angesicht zu Angesicht. (1. Joh. 3,2,)

Es bleibt mir noch, auf die Frage zu antworten, ob nicht auch der Christ noch einen Kampf zu bestehen habe, solange er lebt. Ja, es ist so. Dem Christen ist in der Tat ein Kampf von Gott verordnet, aber dieser wahre Kampf wird auch von gläubigen Christen oft nur wenig verstanden und geführt. Was man gewöhnlich Kampf zu nennen pflegt, indem man z. B. sagt: "Ich habe einen Kampf hiermit und damit", ist zumeist ein Kampf, den Gottes Wort nicht als Kampf anerkennt, der auch sogleich enden müsste, wenn der Gläubige sein gesegnetes Teil in Christus erkennen und dem Herrn mit ungeteiltem Herzen anhängen würde. Ein geteiltes Herz macht viel Mühe, aber das ist noch kein Kampf nach Gottes Wort.

Doch genug für heute. Der Herr sei deines Lebens Licht und deine Stärke! {Psalm 27,1.} Ihm und Seiner Gnade sei in treuer Liebe anbefohlen

von deinem ...