Praktische Heiligung: auf Christus schauen (13. Brief)

Lieber ...,

wir sahen in unserem letzten Brief, dass wir bei den Christen unterscheiden müssen zwischen Stellung und Zustand. Der Gläubige ist "in Christus" und darum "vollendet" (Kol. 2,9.10). Es gibt "keine Verdammnis mehr" für ihn (Röm. 8,1); er ist eine "neue Schöpfung" (2. Kor. 5,17). Dies ist seine Stellung. Sie ist bei allen Kindern Gottes gleich groß, vollkommen und herrlich.

Es gibt hierin keinen Unterschied, kein Wachstum auch keinen Fortschritt. Jeder wahrhaft gläubige Christ kann deshalb im Blick auf seine unantastbare Stellung jubeln:

"Mein Siegeskranz ist längst geflochten

Und nichts mehr noch hinzuzutun;

Seitdem der Held für mich gefochten,

Kann ich in Friedenszelten ruhn.

Mich schreckt kein Zorn, kein Fluch der Sünden,

Kein Tod mehr, keine finstre Macht.

Er hat in Seinem Überwinden

durch alles mich hindurchgebracht.

Ich kenn' mich nicht mehr im Bilde

Der alten seufzenden Natur;

Ich jauchze unter Gottes Schilde

Und kenne mich in Christo nur,

In Christi Schmuck, Triumph und Schöne

Heb ich getrost mein Haupt empor

Und mische meine Harfentöne

Schon in den ew'gen Siegerchor.“

(Friedrich Wilhelm Krummacher {1796-1868}.)

Das also ist "in Christus" unser Teil. Aber Christus ist auch "in uns". Und hinsichtlich dieser Tatsache, die auch unseren Zustand kennzeichnet, ist nicht nur ein Wachstum möglich , sondern auch in Gottes Wort gefordert . Christus kann und will in den Seinen mehr und mehr Gestalt gewinnen, wie Tersteegen singt:

„Im Wort, im Werk, in allem Wesen

Sei Jesus und sonst nichts zu lesen.“

Wir werden "Briefe Christi" genannt. An uns, in unserem Tun und Lassen, soll die Welt den vollkommen heiligen und gnadenvollen Willen Gottes ablesen können, wie einst auf den zwei Tafeln vom Sinai Gottes Gebote zu lesen waren. (2. Kor. 3,3.)

In demselben Kapitel hören wir auch, worin für uns das Geheimnis des Erfolgs liegt, damit Christus wirklich in uns erkannt, dargestellt und verherrlicht wird. Wir müssen Jesus anschauen, uns in der Kraft des in uns wohnenden Heiligen Geistes mit Ihm, dem verherrlichten Herrn, beschäftigen. So werden wir "verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit". (2. Kor. 3,17.18.)

Als wir noch Sünder waren, gebeugt, beschwert unter unserer Last, da rief uns Jesus zu, wie Er heute noch allen heilsverlangenden Seelen zuruft: "Kommt her zu Mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und Ich werde euch Ruhe geben." Und nun, da wir Ruhe, d. h. Vergebung und Frieden mit Gott in Ihm besitzen, sagt Er uns: "Nehmt auf euch Mein Joch und lernt von Mir!" (Matth. 11,28.29,) Und dieses "Lernen" und "heranwachsen zu Ihm hin" (Eph. 4,15) geht weiter während unseres ganzen Erdenlebens.

Wenn wir treu und willig Jesu Joch tragen, Ihm nachfolgen, von Ihm lernen, in Ihm bleiben (Joh. 15,4; 1. Joh. 2,28; 3,6), dann gehen wir von Kraft zu Kraft {Psalm 84,7<6>} und nicht von Fall zu Fall oder von Niederlage zu Niederlage. Wir sind dann "mehr als Überwinder" {Röm 8,37}.

Nicht wenige Bekehrte, die es treu meinen mögen, können sich nicht genug verwundern und nicht genug darüber beklagen, dass sie, bei aller Anstrengung, nicht aus dem Straucheln herauskommen können. Würden sie, anstatt mit sich, d. h. mit ihrem trügerischen Herzen, immer im Kampf zu liegen und, anstatt immer neue Vorsätze zu fassen - eingedenk ihrer Ohnmacht - nur auf Jesus schauen“ abhängig bleiben von Ihm, so ginge alles viel besser.

Nehmen wir an, zwei Männer gehen über ein weites Schneefeld nach einem entfernt liegenden erleuchteten Haus. Sie wollen dorthin einen schnurgeraden Pfad zurücklegen.

Der eine blickt deshalb beständig voll Angst auf seine Füße, um nur ja einen recht geraden Weg zu machen, aber wenn er am Ziel angekommen ist und dann die Spuren überschaut, die er gemacht hat, sieht er eine Zickzacklinie, die hinter ihm liegt!

Der andere aber blickt selten auf seine Füße, sondern eigentlich unverwandt auf das Licht in der Ferne, dem er entgegengeht. Und sein Pfad ist schön schnurgerade geworden!

So ist es auch im Geistlichen. Diejenigen, die immer voll Angst und Unruhe sind und sich ständig fragen "Wie mache ich dies; wie mache ich das?" werden den Herrn wenig verherrlichen. Ist aber das Herz an seinem Platz, so geht alles gut. Man blickt dann in aller Einfalt, aber treu, auf den Herrn, mit Ihm zu verkehren, in Ihm zu bleiben, an Ihm und Seinen Zeugnissen und Worten seine Lust und Wonne zu haben. Der Geist des Herrn und Sein Wort richten dann den ganzen Gang. Darum sagt Er: "Wenn dein Auge einfältig ist (mit ungeteiltem Herz nur auf einen Gegenstand gerichtet), so ist auch dein ganzer Leib licht," (Luk. 11,34.35.) Dann wirst du wissen, was du zu tun und zu lassen hast. Und Salomo sagt: "Bewahre dein Herz mehr als alles, was zu bewahren ist, denn von Ihm aus sind die Ausgänge des Lebens." (Spr. 4,23.)

Das geistliche Leben also soll in uns wachsen und zunehmen, geliebter Bruder, und wir sollen mehr und mehr durch das Hinschauen auf Jesus in das Bild des Herrn verwandelt werden. Doch wie ich dir schon wiederholt aus Gottes Wort gezeigt habe, bleibt unsere alte Natur, die Sünde im Fleisch, auch nach der Wiedergeburt und Bekehrung, unverändert schlecht und unverbesserlich verderbt in uns. Wohl ist "unser alter Mensch" mit Christus gekreuzigt, und darum die "Sünde in uns" gerichtet, richterlich hinweggetan, so dass wir nach unserem früheren Zustand völlig vor Gott gestorben und beseitigt sind; aber das ist doch nur richterlich der Fall. Wir müssen diese Wahrheit, dass wir mit Christus als verdorbene Adamskinder gestorben sind, täglich, stündlich durch den Glauben fest halten und in der Kraft des Heiligen Geistes auf uns und alle Regungen in uns anwenden, "allezeit das Sterben Jesu am Leib umhertragend". So allein töten wir "die Glieder, die auf der Erde sind", und "das Leben Jesu wird an unserem sterblichen Leib offenbar". (2. Kor. 4,10; Kol. 3,1-8.) Nie aber wird das Fleisch, die alte Natur, bei uns heilig, wie leider nicht wenige lehren, und wonach so viele streben. Wer da sagt; er sei in sich heilig geworden, er habe in sich selbst nie mehr einen Gedanken oder ein Gefühl zu verurteilen, nicht nötig mehr zu wachen und zu beten und sich zu richten, also auch nicht nötig, noch von Gott bewahrt zu werden, lieber Freund, der ist unaufrichtig oder blind über sich selbst. Jedenfalls widerspricht er Gott.

In Gottes Wort lesen wir: "Wenn wir sagen (wir, die Wiedergeborenen), dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns." (1. Joh. 1,8.) Merke, wie ich dir schon früher sagte: es heißt "keine Sünde" nicht "Sünden", denn die Sünden sind den Gläubigen alle vergeben. Aber die Sünde, d. h. die alte, geerbte Natur ist noch in uns, obwohl sie vor Gott gerichtet, getötet und begraben ist. Darum die vielen Ermahnungen in Gottes Wort an uns, und darum das Hohepriestertum und die Sachwalterschaft Christi zur Rechten Gottes für uns.

Der Apostel Paulus stand gewiss höher als alle jene Männer und Frauen, die von sich selbst sagen (oder von denen ihre Freunde zu sagen wagen), dass sie in sich heilig geworden seien, und doch wissen wir, dass dieser Apostel, nachdem er selbst "in den dritten Himmel entrückt" gewesen war, doch noch einen Dorn oder "Pfahl im Fleisch" nötig hatte, um sich nicht zu überheben. (2. Kor. 12.) Ich denke, diese eine Tatsache schon sollte diesen "Heiligkeits leuten" die Augen öffnen – auch wenn sie dem Apostel auch dessen eigenes Zeugnis über sich: "Ich weiß, dass in mir, d. h. in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt" (Röm. 7,18), durch falsche Auslegung wegnehmen wollen.

Doch, lieber Freund, genug für heute. Der Herr selbst leite dich in die Wahrheit und unterweise dein Herz, damit es beides erkenne:

In Ihm

dein treuverbundener ...